Ruth Brauner geht es um die Sichtbarmachung der Konstruktionsweise von Erinnerungsbildern.
Ihrer figurativen Malweise ist sie treu geblieben, ihr Figurenpersonal verweist auf die persönliche Sphäre der Familie und der Identität.
In ihren "Episodenrückblicken" (2011) bilden Familienfotos das künstlerische Ausgangsmaterial. Den Fotos rückt sie zunächst mit der Schere und ihrem selektiven Geist "zu Leibe". Dann kommt der Farbpinsel zum Einsatz. Ein Passepartout, das die Szene rahmt, wird durch Übermalen in das Bild integriert. Der neue, malerisch erreichte Zustand wird fotografisch fixiert und dient als Ausgang für das nächste Bild.
Altes, "Ach-so-Bekanntes" wird zerstört; die Bilder passen nicht mehr, entsprechen nicht mehr dem Gefüge, das sich in der Erinnerung fortwährend verändert. Es wird neu geordnet. Immer wieder, in mehreren Schichten. Es entsteht eine Serie. Und jedes Bild der Serie ist ein Original.
Ein Kind schmiegt sich an seinen Vater. Im nächsten "Episodenbild" ist das Kind verschwunden, die Form ist ausgespart und nur die Silhouette ist da und visualisiert eine Abwesenheit. Vater und Kind driften im Folgebild auseinander, andere Figuren drängen sich in die Aussparungen hinein. Mit jeder weiteren Schicht verändert sich die Konstellation der Personen.
Die beiden Ausgangsfotos für die Bilder der Serie "Episode 2" wurden aus unterschiedlichen Blickwinkeln und aus verschiedener Distanz heraus geschossen und ergeben so die Basis für Rekombinationen. Einzelne Elemente dienen der Wiedererkennung, wie etwa die blauen Augen des Jungen oder die Kleidung. Jedoch sehen wir den Jungen zunächst zur Rechten der Erwachsenen, vielleicht der Mutter, dann taucht er zu ihrer Linken auf, und ist im Verhältnis zu ihr wesentlich kleiner dargestellt. Das Baby befindet sich einmal auf dem linken Arm der Mutter, da ist es zunächst als Silhouette angegeben und ausgespart, dann jedoch porträthaft gemalt, wie eine anwesende Person und schliesslich findet es sich im Arm des Jungen wieder.
Zunächst lesen wir Brauners Arbeiten aus einem augenscheinlich persönlichen Kontext heraus, denn die Personen sind nicht als Ausführende einer Funktion in einem formalen Akt gezeigt. Es geht hier aber nicht um die tatsächliche biographische Sphäre der Künstlerin und ihrer Familie, sondern eher um das Familiäre als Widerspiegelung eines scheinbar konstanten Gefüges, das einem ständigen Veränderungsprozess unterworfen ist. So könnten die Veränderungen in den Bildern Entwicklungen im emotionalen Familiengefüge visualisieren: Zwei Personen stehen einander einmal näher, ein anderes Mal stehen sie jemand anderem näher.
Die Veränderungen, die durch das Nebeneinander der Bilder innerhalb einer Serie sichtbar gemacht werden, bringen darüber hinaus die Art und Weise in den Blick, wie sich Erinnerung vollzieht.
Die Übermalungen des Rahmens bedeuten eine Erweiterung des Bildes. Der Rahmen steht für die Natur der Erinnerungen: Eine Erfahrung bekommt immer wieder eine neue Bedeutung!
Erfahrungen können wir immer nur im Verlauf der Zeitdimension machen. Das Abrufen und Werten von Erfahrungen unterliegt dabei einer gewissen Zufälligkeit. Die Erinnerungsbilder sind keineswegs homogene Gebilde, auf die jederzeit und in immer gleicher Weise zugegriffen
werden kann. Sie vermischen sich mit einer von der jeweiligen psychischen Verfasstheit dominierten Wahrnehmung, entstehen gewissermassen als Möglichkeitsbilder.
In diesem Sinne lassen sie in der Reflexion über das Verhältnis zeitlicher Brüche und Kontinuitäten an Henri Bergson denken. Im ausgehenden 19. Jahrhundert, einer von Naturwissenschaften und ihrer Anwendbarkeit im Alltag geprägten Zeit, schrieb er im Rahmen der ganz unzeitgemässen "Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist" über die
Rolle des Leibes für die Erfahrung von Welt und die Wahrnehmung von "Erinnerungsbildern". Das Gedächtnis sei nicht bloss eine Funktion unseres Gehirns, und es funktioniere nicht wie ein Archiv, in welchem alles abgelegt werde. Es sei vielmehr eine Art flüchtiger Hülle- eine sich
ständig verändernde, lebendige, individuelle Realität. Die "reine Erinnerung" sei eine Illusion; da an der Erinnerung die aktuelle Befindlichkeit Anteil habe und sie beeinflusse. Dabei verfolge uns die Erinnerung wie ein Schatten.
Die Werke zeigen, wie sehr der Betrachter die Bilder mitgestaltet. Dass die Wahrnehmung, die Erinnerung und der Blick gewissen Bedingungen unterliegen. Brauner will ihren künstlerischen Blick auf die eigene Wahrnehmung, und allgemeiner: auf diejenige eines Fremden nachvollziehbar machen. Ihre Bilder tragen durch die persönliche Ebene und den Zeitdimension-Bezug zur Dekonstruktion von Erinnerungsweisen bei.
In Ruth Brauners aktuellen Arbeiten ist das Sichtbare als Dualismus von Bewusstem und Unbewusstem aufgefasst, und so sind sie eine konsequente Fortführung ihrer Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von "persona" und "Schatten" nach Carl Gustav Jung ("Archetypen") in den Werken früherer Jahre.
Heike Rosenbaum, 2011